Beschluss 745-01 – Sofortige Aussetzung der Handreichung Förderung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten oder besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen vom 22. Januar 2025 sowie Überarbeitung des § 44 Abs. 1a Hamburgisches Schulgesetz, der Verordnung über die Gewährung von Notenschutz in allgemeinbildenden Schulen vom 19. August 2024 und der Handreichung Nachteilsausgleich aus März 2013
Die Elternkammer Hamburg hat auf ihrer Sitzung am 10. Juni 2025 wie folgt beschlossen:
Die Elternkammer Hamburg fordert die Behörde für Schule und Berufsbildung auf,
(1) die Handreichung Förderung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten oder besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen vom 22. Januar 2025 (Handreichung LRS 2025) sofort auszusetzen und
(2) den § 44 Abs. 1a Hamburgisches Schulgesetz (§ 44 Abs. 1a HmbSG), die Verordnung über die Gewährung von Notenschutz in allgemeinbildenden Schulen vom 19. August 2024 (VO Notenschutz) und die Handreichung Nachteilsausgleich aus März 2013 (Handreichung NTA 2013), zeitnah zu überarbeiten.
Die Elternkammer Hamburg stellt fest, dass der § 44 Abs. 1a Hamburgisches Schulgesetz, die Verordnung über die Gewährung von Notenschutz in allgemeinbildenden Schulen vom 19. August 2024 sowie die im Januar 2025 in Kraft getretene Handreichung zur Förderung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen erhebliche rechtliche, pädagogische sowie strukturelle Mängel aufweisen. Diese stehen in Konflikt mit nationalen und internationalen Rechtsnormen und erfordern eine sofortige Korrektur durch die Behörde für Schule und Berufsbildung.
Diese rechtlichen Neuerungen, die zum Schuljahr 2024/25 in Kraft getreten sind, stellen für die oben genannte Gruppe von Schülerinnen und Schüler eine deutliche Verschlechterung gegenüber den bisherigen Regelungen dar.
Zwar ist wie vom Bundesverfassungsgericht am 22. November 2023 gefordert, der Begriff Notenschutz an allgemeinbildenden Schulen in Hamburg gesetzlich verankert worden, allerdings bezieht sich dieser Notenschutz nur auf einen kleinen, von der Schulbehörde fest definierten Teil von Schülerinnen und Schülern, mit „besonderen und langanhaltenden Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“. Schülerinnen und Schülern mit Problemen im Rechnen wird ab dem Schuljahr 2024/25 gar kein Notenschutz mehr gewährt (BVerfG, Urteil vom 22. November 2023 – 1 BvR 2577/15).
Zudem ist die Gewährung von Förderung, Nachteilsausgleich und Notenschutz seit dem Schuljahr 2024/25 an äußerst rigide Voraussetzungen geknüpft, die den tatsächlichen individuellen Beeinträchtigungen und Behinderungen vieler Schülerinnen und Schüler nicht angemessen Rechnung tragen. Dies gefährdet in erheblichem Maße deren chancengleichen Zugang zu Bildung sowie die Möglichkeit, einen regulären Schulabschluss zu erlangen, und führt dadurch zu einer strukturellen Benachteiligung im Hinblick auf ihre Teilhabe an einem selbstbestimmten gesellschaftlichen Leben.
Konkret benannte Mängel
1. Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
Hamburg vernachlässigt bei der Gewährung von Notenschutz eine heterogene Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen (etwa aus den Bereichen Autismus-Spektrum, Sprachentwicklung, Konzentration, Sensorik oder neurologische Entwicklungsstörungen), obwohl Art. 24 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ausdrücklich eine umfassende, diskriminierungsfreie Teilhabe in allen Bereichen des Bildungssystems verlangt (Art. 24 UN-BRK).
Eine gesetzliche Klarstellung ist erforderlich, um den Anspruch auf angemessene Vorkehrungen gemäß § 1 Hamburgisches Schulgesetz (§ 1 HmbSG) und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und der UN-BRK auch für diese Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.
Die Verordnung und die Handreichung lehnen medizinisch anerkannte Diagnosen (z. B. Legasthenie gemäß ICD-10 F81.0/F81.1 oder Dyskalkulie gemäß ICD-10 F81.2) als ausschlaggebende Grundlage für die Gewährung von Förderung, Nachteilsausgleich sowie Notenschutz ab. Diagnosen durch Fachärzt:innen oder Psycholog:innen werden lediglich „zur Kenntnis genommen“. Dies widerspricht Art. 24 UN-BRK, § 1 HmbSG sowie dem Diskriminierungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.
2. Monopolstellung schulischer Testverfahren – Nichtanerkennung medizinischer Diagnosen
Das Testverfahren SCHNABEL dient laut eigener Definition der pädagogischen Unterstützung und ist nicht zur medizinischen Diagnostik geeignet. Dennoch wird es als alleiniges Kriterium für die Gewährung von Förderung, Nachteilsausgleich oder Notenschutz bei Problemen im Rechtschreiben herangezogen. In höheren Jahrgängen (9–11) werden nur für Jahrgang 8 validierte Testbögen verwendet. Das verletzt das Willkürverbot gemäß Art. 3 GG.
3. Wegfall bewährter Nachteilsausgleichsmaßnahmen und keine deutliche Ausweitung des Maßnahmenkatalogs
Eine Ausweitung des Maßnahmenkatalogs unter anderem um moderne technische Hilfsmittel, wie bereits von der Elternkammer mit Beschluss vom 22. Juni 2023 gefordert (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen | Elternkammer Hamburg), ist nicht erfolgt. Im Gegenteil:
In der Handreichung LRS 2025 wurden zentrale, in der Handreichung NTA 2013 noch enthaltene Maßnahmen gestrichen. Darunter fallen z. B. mündliche Prüfungsformate in Deutsch bei Rechtschreibschwäche, Gewährung zusätzlicher Arbeitszeiten im Regelunterricht und Vorleseunterstützung ab Klasse 7. Die Streichung dieser Maßnahmen verletzt § 2 Abs. 2 HmbSG (förderorientierter Unterricht) und das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
4. Erschwerte Zugangsbedingungen zu innerschulischen Maßnahmen und außerunterrichtlicher Lernhilfe (AUL)
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Nachteilsausgleich, Notenschutz und außerunterrichtlichen Lernhilfe wurden mit den zum Schuljahr 2024/25 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuerungen deutlich verschärft.
Die sofortige Entlastung der betroffenen Schülerinnen und Schüler in Unterrichts- und Prüfungssituationen ist durch die neuen gesetzlichen Regelungen nicht mehr möglich, da für die Gewährung von Nachteilsausgleich die Teilnahme an einer mindestens 6-monatigen und für die Gewährung von Notenschutz sowie AUL die Teilnahme an einer mindestens 12-monatigen schulischen Förderung innerhalb und außerhalb des Unterrichts Voraussetzung ist.
5. Gewährung und Entzug von schulischen Maßnahmen
Nachteilsausgleiche und Notenschutz können von den einzelnen Lehrkräften nicht mehr wie bisher zeitnah, individuell und flexibel für die einzelnen Schülerinnen und Schüler bedarfsorientiert angepasst werden, da diese Maßnahmen ab dem Schuljahr 2024/25 nun grundsätzlich von der Zeugniskonferenz beschlossen werden müssen.
Gewährte Förderung, Nachteilsausgleiche sowie Notenschutz können jetzt theoretisch schon nach sechs Monaten wieder aufgehoben werden, auch wenn sich die Ergebnisse in den schulischen Testverfahren lediglich um 0,1 Prozentrang-Punkte verbessert haben und die Schülerinnen und Schüler damit aus dem anspruchsberechtigten Personenkreis herausfallen.
Dies führt zu einer unzumutbaren zusätzlichen emotionalen Belastung dieser durch ihre Teilleistungsstörungen sowieso schon für psychische Erkrankungen deutlich vulnerableren Schülergruppe, verletzt § 1 Abs. 2 sowie § 3 Abs. 3 HmbSG (§ 1 HmbSG, § 3 HmbSG,) (volle Entfaltung der Leistungsfähigkeit) und verstößt ebenfalls gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
6. Fehlende begriffliche und funktionale Trennschärfe zwischen Nachteilsausgleich und Notenschutz bei inhaltlich identischen Unterstützungsmaßnahmen
Die doppelte Verwendung des Begriffs „Vorlesen“ in der Handreichung LRS 2025 ist nicht mit dem Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG) und dem Urteil des Bundesverfassungsberichts vom 22.11.2023 (BVerfG, Urteil vom 22. November 2023 – 1 BvR 2577/15) vereinbar, da sie
• eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Nachteilsausgleich und Notenschutz erschwert,
• zu faktischer Ungleichbehandlung führen kann,
• und die verfassungsrechtlich gebotene Transparenz und Rechtssicherheit untergräbt.
Die identische Bezeichnung „Vorlesen“ für verschiedene schulische Maßnahmen ohne eindeutige begriffliche Trennung widerspricht der Differenzierungspflicht, da nicht klar erkennbar ist, in welchem Fall ein Zeugnisvermerk erforderlich ist.
7. Unverhältnismäßige Belastungen für Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreibstörung – Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot
Die Verpflichtung von Schülerinnen und Schülern mit Lese-Rechtschreibstörung zur dauerhaften schulischen Förderung innerhalb und außerhalb des Unterrichts von der erstmaligen Feststellung der Schwierigkeiten bis Klasse 12/13 und zur halbjährlichen Testung als Voraussetzung für die Gewährung von Nachteilsausgleich und Notenschutz wird als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig kritisiert.
Sie stellt eine unzumutbare Belastung für die oben genannte Schülergruppe dar und verletzt den Gleichbehandlungsgrundsatz, da vergleichbare Anforderungen an Schüler
Zudem widerspricht die Pflicht zur gleichzeitigen Teilnahme an schulischer Förderung außerhalb des Unterricht neben der lerntherapeutischen Förderung (AUL) dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, insbesondere angesichts der durch das Bundesverfassungsgericht anerkannten höheren Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen (BVerfG, Urteil vom 22. November 2023 – 1 BvR 2577/15 Rn. 40).
8. Diskriminierung von Schülerinnen und Schüler während und nach zieldifferenter Beschulung
Die Handreichung LRS 2025 schließt Schülerinnen und Schüler, die im Jahr vor einer zielgleichen Beschulung zieldifferent unterrichtet wurden, auch im Schuljahr nach Aufhebung der zieldifferenten Beschulung und Überführung in die zielgleiche Beschulung von Förderung, Nachteilsausgleich und Notenschutz aus. Dies ist eine erhebliche Verschlechterung gegenüber den bisherigen Regelungen.
Zudem führt die Nichtgewährung von AUL-Maßnahmen für Schülerinnen und Schüler mit Teilleistungsstörungen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen während des Zeitraums der zieldifferenten Beschulung zu einer Diskriminierung und ungerechtfertigten Benachteiligung dieser Schülergruppe, da ihnen auch mit der Handreichung LRS 2025 weiterhin hochqualifizierte außerunterrichtliche Lerntherapie (AUL) verwehrt wird.
Dies verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 1 HmbSG).
9. Fehlende Transparenz und Willkür bei der Gewährung von Nachteilsausgleich und Notenschutz – Gefährdung von Chancengleichheit und Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz
Laut der Handreichung 2025 können Schülerinnen und Schüler der betroffenen Gruppen trotz exakt gleichem Testergebnis Nachteilsausgleiche und Notenschutz in komplett unterschiedlicher Ausprägung erhalten. Die fehlende Regelklarheit ermöglicht eine willkürliche Auslegung durch Schulen, was zu ungleichen Bildungschancen und diskriminierenden Bewertungen führen kann.
Dies verletzt den verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG).
10. Fehlende Beteiligung gesetzlich vorgesehener Gremien
Die Elternkammer Hamburg wurde entgegen § 79 Abs. 2 Hamburgisches Schulgesetz (§ 79 Abs. 2 HmbSG) nicht an der Ausgestaltung der Handreichung LRS 2025 beteiligt.
Zudem wurden bei der Gesetzesänderung zu § 44 Abs. 1a HmbSG sowie der Erstellung der VO Notenschutz nicht die die Zivilgesellschaft vertretenden Organisationen einbezogen, wie es Art. 33 Abs. 3 UN – Behindertenrechtskonvention (Art. 33 Abs. 3 UN-BRK) vorsieht. Dies stellt einen Verstoß gegen Beteiligungs- und Transparenzgebote dar.
Angesichts der erheblichen systemischen Mängel erachtet die Elternkammer Hamburg eine unverzügliche Überarbeitung der vorgenannten rechtlichen Regelungen als zwingend erforderlich.
Der Elternkammer Hamburg wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Fallkonstellationen zugetragen, die die bestehenden strukturellen Konfliktlagen in besonderer Weise offenlegen.
Es verstößt gegen die rechtsstaatlichen Grundprinzipien der Normenklarheit, Bestimmtheit und Rechtssicherheit, dass eine komplexe 92-seitige verwaltungsinterne Handreichung derart inhaltliche Unschärfen und konzeptionelle Defizite aufweist, dass eine systematische und konsistente Anwendung der Regelungen durch die Lehrkräfte verhindert wird.
Stattdessen ist vielmehr mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass infolge der bestehenden Unklarheiten eine Vielzahl von Einzelfallentscheidungen durch übergeordnete Instanzen – namentlich die Abteilung BS4 der Behörde für Schule und Berufsbildung – erforderlich wird.
Zudem besteht die konkrete Gefahr einer strukturellen Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen – insbesondere im Falle einer diagnostizierten Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) oder Rechenstörung (Dyskalkulie) – da diesen Betroffenen die ihnen nach dem Grundgesetz, dem Hamburgischen Schulgesetz sowie internationalen Übereinkommen (insb. Art. 24 UN-BRK) zustehenden Nachteilsausgleiche, Fördermaßnahmen und Notenschutzregelungen in der Praxis vorenthalten werden.
Es ist ferner davon auszugehen, dass Ablehnungsentscheidungen von den betroffenen Familien mangels rechtlicher Kenntnis oder aufgrund struktureller Überforderung oftmals nicht mit Rechtsmitteln angegriffen werden, sodass eine effektive Rechtsdurchsetzung faktisch unterbleibt.
Antragssteller:
Elternkammer Hamburg – Ausschuss Diversität und Inklusion (ADIVI)
info@elternkammer-hamburg.de
Anlage
Weiterführende Erläuterungen zum Antrag 745-01 – Sofortige Aussetzung der Handreichung Förderung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten oder besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen vom 22. Januar 2025 sowie Überarbeitung des § 44 Abs. 1a Hamburgisches Schulgesetz, der Verordnung über die Gewährung von Notenschutz in allgemeinbildenden Schulen vom 19. August 2024 und der Handreichung Nachteilsausgleich aus März 2013